Beziehungen brauchen heute eine Portion Unabhängigkeit
Die Zeit der sehr symbiotischen Liebesbeziehungen und Verschmelzung scheint vorbei: Viele Singles streben heute nach einer Beziehung, die zwar eine sichere Basis bietet, aber Raum für Entwicklung und Entfaltung lässt. Auch Psychologen wissen, dass eine Portion Autonomie der Liebe gut tut und verraten, wie Paare mehr Unabhängigkeit in ihre Beziehung integrieren können.
Viele Singles wünschen sich eine Beziehung als i-Tüpfelchen
Samstagvormittag mit der besten Freundin den ersten Kaffee auf dem Wochenmarkt trinken, für das spätere Kochen in großer Runde einkaufen, noch schnell ein Massagetermin am Nachmittag, bevor die Gäste kommen… Der Solo-Beziehungsstatus ist nicht mehr gleichzusetzen mit Einsamkeit. Besonders Frauen verfügen über eine gute Single-Kompetenz und ein großes soziales Netz, nur 13 Prozent sind laut einer ElitePartner-Studie mit ihrem Leben ohne Partner unzufrieden. Kein Wunder, war doch die Lebensqualität als Alleinstehender in Deutschland noch nie so hoch wie heute, besonders in Großstädten. In einem Alltag, der sich mit vielfältigen Kultur- und Freizeitangeboten, attraktiven Jobchancen und vielen Single-Freunden nach den eigenen Interessen ausrichten lässt, haben sich die Erwartungen an eine Beziehung verändert. Sie ist vor allem dazu da, das eigene schöne Leben zu bereichern. Die Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen und Interessen dem Leben als Paar vollständig unterzuordnen, sinkt hingegen. In einer ElitePartner-Studie gaben 35 Prozent als Grund für ihr Solo-Dasein an: „Ich habe sehr hohe Ansprüche und möchte keinen Kompromiss eingehen.“
Unabhängigkeit ist für junge Singles ein wichtiges Ziel
Das Selbstbewusstsein und der Anspruch Alleinstehender ist gestiegen. Singles empfinden sich nicht mehr als „unvollständig“ und sehen sich heute daher auch nicht gezwungen, eine Beziehung einzugehen. Der gesellschaftliche Druck schwindet, eine Partnerschaft oder die Familiengründung zum Mittelpunkt des Lebens zu machen. Das spiegelt sich auch in den Top 3 der Lebensziele von 16- bis 35-Jährigen wider, die 2011 im Trendmonitor der Versicherung Heidelberger Leben identifiziert wurden – und die tatsächlich sehr ich-zentriert ausfallen. Am wichtigsten ist es jungen Menschen vor allem „gesund zu sein“ (93 Prozent), aber auch die „Unabhängigkeit, das Leben selbst gestalten zu können“ (90 Prozent) sowie „gute Freunde zu haben“ (89 Prozent).
Verpflichtende Moralvorstellungen lassen nach
Ohne Bindungen familiärer Natur geht es für die meisten bei aller Liebe zur Autonomie nicht. Für die Familie da zu sein, ist für 84 Prozent ein wichtiges Ziel, wobei 70 Prozent sogar davon ausgehen, mehr als ein Kind zu haben. Schauspieler Matthias Schweighöfer hat sogar zwei. Doch mit der Mutter seiner Kinder lebt er nicht zusammen. „Eine Standardfamilie werden wir nie sein“, erklärt er gegenüber news.at. Der 35-Jährige beschreibt seine Partnerschaft als „ganz absurde Beziehung“, bekennt aber: „So wie es ist, passt es zu dem Leben, das ich führe.“ Auch heute noch kein populäres Lebensmodell, sondern eines, das polarisiert oder zumindest aufhorchen lässt. Vielleicht kein Zufall, dass sowohl Matthias als auch Uwe aus einem künstlerischen, eher unkonventionellen Umfeld stammen, in dem die Offenheit für alternative Beziehungsmodelle besonders groß ist. Uwe jedenfalls ist sich sicher: „Wir wollen beide autark bleiben. Wir haben sehr unterschiedliche Lebensumstände, die uns sehr fordern […]. Es gibt auch keine Notwendigkeit, zusammenzuziehen. Für mich ist es eine Erleichterung, dass der gemeinsame Alltag entfällt. Ich bin sympathischer, wenn man nicht den ganzen Tag mit mir zusammen ist.“ Das Leben nicht nach gesellschaftlichen Erwartungen auszurichten, sondern nach dem eigenen Empfinden, ist noch ein relativ neuer Trend, aber einer, der nicht aufzuhalten ist.
So prognostizieren Zukunftsforscher laut Focus, dass „individuell ausgehandelte Arrangements“ in Beziehungen noch an Bedeutung gewinnen werden. „Liebes-Praktiken, die lange als Sittenverfall stigmatisiert wurden, rücken von den Rändern der Gesellschaft in den Mainstream“, konstatiert der Geschäftsführer des Zukunftsinstituts in Kelkheim bei Frankfurt, Andreas Steinle, in dem Artikel. „Verpflichtende Moralvorstellungen wie sie seitens der Kirchen formuliert werden, lassen mit der Individualisierung nach.“
„Integrierter Idealismus“: Wer Autarkie will, braucht andere
Viele Biografien lassen sich schon heute nicht mehr in tradierte Schablonen pressen. Das Living-apart-together-Modell ist gar nicht so selten, fast zehn Prozent aller Paare leben laut Experten mittlerweile in getrennten Wohnungen, häufig aus beruflichen Gründen, immer öfter aber auch aus freien Stücken. Als Familie funktioniert dieses organisatorisch oft herausfordernde Lebensmodell nur mit verlässlicher Kinderbetreuung und einem Netzwerk aus Freunden. Die Realisierung eines eigenen Lebensentwurfs ist demnach eng mit der Einbindung in ein Kollektiv verknüpft. Für dieses fast schon paradoxe Phänomen hat die Zukunftsforschung einen Namen gefunden: Von „integriertem Individualismus“ ist im Artikel „Die Individualisierung der Welt“ auf zukunftsinstitut.de die Rede. „Je individualistischer der Lebensentwurf, desto mehr ist man auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen, die nicht unmittelbar zum familiären Umfeld gehören.“ Kein Wunder, dass Freunde zu haben zum Lebensziel geworden ist – sie werden vielfach zur Ersatzfamilie. Allerdings verlangt ein solches Modell vielen Leuten Toleranz ab. Nicht jeder kann die Entscheidung für die selbstgewählte Distanz nachvollziehen.
Symbiose-Sehnsucht zeigt Defizite aus der Kindheit
Dabei ist Autonomie erst einmal nichts, was zu entschuldigen wäre, sondern sogar das entscheidende Merkmal einer reifen Beziehung. Sie muss sich nicht unbedingt räumlich ausprägen, in jedem Fall aber spricht es für sich, wenn beide Partner „bei sich“ sind, was Entwicklung, Wachstum und Veränderung in der Beziehung möglich werden lässt. Respekt für den anderen und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung setzt Selbst-Bewusstsein im Wortsinn voraus.
Die Verschmelzung hingegen wird häufig als Sinnbild für Romantik fehlinterpretiert. Dabei ist die Sehnsucht nach Symbiose, die mit Anpassung und Abhängigkeit verbunden ist, eher Ausdruck defizitärer Kindheitserfahrungen. „Der Wunsch, dass da jemand ist, der ganz für mich da ist – wie es ein Kind von seiner Mutter erwartet -, überfordert eine Partnerschaft, denn er negiert das eigenverantwortliche Erwachsensein, das grundsätzliche Getrenntsein vom Partner“, ist in Sabine und Matthias Stiehlers Abhandlung „Ich bin ich und Du bist Du“ nachzulesen.
Eine reife Beziehung setzt emotionale Autonomie voraus
Häufig werden die lebenslangen Ehen von Großeltern oder die erste Liebe als Symbiose wahrgenommen und verklärt. Doch das Geheimnis einer guten Partnerschaft sieht anders aus: „Für eine reife Beziehung ist es notwendig, dass jeder für sich zu emotionaler Autonomie gelangt“, konstatieren die Autoren Stiehler. Die Großeltern hatten vielleicht denselben Tagesrhythmus und traten in den Augen der Enkel nur im Doppelpack auf. Doch auf diesen Gleichklang im Äußeren kommt es gar nicht an. „Wichtig ist der Zustand der Reziprozität, die Herstellung einer Gleichwertigkeitsbalance in den typischen Interaktionen von Unterstützen, Begrenzen, Herausfordern und Loslassen. Partner unterstützen einander, indem sie durch die Beziehung eigene Lebensmöglichkeiten optimieren, indem sie einander zuhören, kommentieren und interpretieren“, so das Autorenpaar. „Sie fordern sich gegenseitig zur Entwicklung heraus und sind gefordert, einander loszulassen, um sich in ihren individuellen Entwicklungen nicht zu behindern.“ Darum sind eigene Leidenschaften, Interessen und Sichtweisen in einer einander zugewandten Zweisamkeit eine gute Basis. „Partnerschaft wird erst dann mit Leben erfüllt, wenn beide sich in Freiheit verbunden fühlen. Der körperliche, geistige und gestaltende Lustgewinn, der sich in der Tiefe nur in einer vertrauten und erarbeiteten Beziehung herstellen lässt, ist der eigentliche Sinn von Partnerschaft.“
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